Michael Städtler (Hannover)
Recht, Moral und Politik bei Kant und im Grundrechteabschnitt
des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland
"[D]enn wer nur immer das Gebot
des Gesetzes ohne die Hilfe des Geistes der Gnade erfüllte, tat es aus
Furcht vor Strafe, aber nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit. Und infolgedessen
sah Gott in ihrem Willen etwas anderes, als was sich vor den Menschen in ihrem
Tun offenbarte, und so wurden sie vielmehr aufgrund jener [Sünde] schuldig
befunden, von der Gott wußte, daß sie sie lieber begangen hätten,
wenn es ungestraft hätte geschehen können."
Kants Rechtsphilosophie mag neben vielen anderen, auch zeitgeschichtlichen und politischen Einflüssen,
ideengeschichtlich dem Grundgesetz voraufgehen, seine Moralphilosophie konnte keinen sachlichen Einfluß nehmen, denn bereits bei Kant
ist das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Moralphilosophie implizit
durch geschichtliche Bedingungen derart bestimmt, daß der Übergang
von der Moral zum bürgerlichen Recht schon argumentativ nicht aufgeht.
Diese Spannung zwischen Moralphilosophie und Rechtsphilosophie, wo auch der
logische Ort der vernünftigen Organisation kollektiver menschlicher Lebensverhältnisse
liegt, hätte Philosophie als politische zu vermitteln, indem sie die
Gründe des Scheiterns jenes Übergangs analysiert. Im Bemühen
um den Übergang und auch im Scheitern daran ist Kant politischer Philosoph; den Rückfall in eine metaphysische Auflösung
des Problems, etwa durch einen idealisierten geschichtlichen Fortschrittsbegriff,
der von einer transzendenten oder säkularen Versöhnung her bestimmt
wäre, kann indes nur die Einsicht verhindern, daß Kants Scheitern
notwendig ist und daß jede positive Auflösung der Aporien von Moral
und Recht die Menschen über das "schimmernde[] Elend" hinwegtäuscht, das alle partikularen gesellschaftlichen
Fortentwicklungen meint, die nicht der universalen vernünftigen Einrichtung
der menschlichen Lebensverhältnisse entspringen. Dies Elend schimmert
heute mehr denn je, ist darum aber nicht weniger Elend, solange die Menschen
nicht ihr Leben und auch dessen rechtliche Ordnung moralisch frei bestimmen,
indem sie sich zur prinzipiellen Negation des Falschen auch praktisch entschließen.
Das Resultat wäre keine ausgesöhnte Wirklichkeit, aber die mindeste
Bedingung menschenwürdigen Lebens.
I. Freiheit
und Moral
Kants Unternehmen, den kategorischen Imperativ in der Rechtslehre zur Form äußerer Gesetzgebung zu
machen, scheitert an dessen Gehalt, das Prinzip moralischer Willensbestimmung
zu sein, denn die Form der Gesetzmäßigkeit der Maxime steht dort,
wo bloß Handlungen geboten werden, gar nicht zur Frage: "Man nennt
die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer
Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben
die Legalität (Gesetzmäßigkeit),
diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die
Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben." Diese formale Unvereinbarkeit von juridischer und moralischer
Ordnung hat Kant gesehen, konnte sie aber für historisch überwindlich
halten, weil der sachliche Grund ihrer Unüberwindlichkeit, die "ungesellige
Geselligkeit", erst im 19. Jahrhundert als durchgängiges Prinzip
einer unmoralischen Gesellschaftsverfassung durchgesetzt wird, der gemäß
auf nunmehr gesellschaftlichem Maßstab die Handlungen konkurrierender
Personen wohl technisch-praktisch koordiniert und abstrakt-rechtlich zugeordnet,
aber nicht moralisch-praktisch als Ausdruck der Freiheit der Subjekte begriffen
werden können.
Die äußere
Freiheit, die der Gegenstand des Rechts sei, zeigt sich nun bereits bei Kant, legt man seinen Begriff
von Freiheit als Autonomie zugrunde, als äußerliche. Freiheit ergibt sich für Kant zunächst aus der Dritten Antinomie
der theoretischen Vernunft als Bedingung der Möglichkeit von Kausalität:
Wäre der Begriff einer Kausalität aus Freiheit, "eine Reihe
von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von
selbst anzufangen", nicht wenigstens problematisch denkbar, verliefe sich
alle Kausalität in einen unendlichen Ursachenregreß, ohne dessen
Abschluß die letzte Wirkung nicht kausal erklärbar wäre; andererseits
stellte die Annahme einer spontan wirkenden Kausalität in der Bestimmung
ihrer selbst einen Sprung im kausalen zusammenhang der Erscheinungen dar und
zerstörte somit die Einheit der Erfahrung. Nun kann die Kausalität
aus Freiheit in einem Subjekt gedacht werden, das als intelligibles, von sinnlichen
Einflüssen nicht determiniertes Vernunftwesen außerhalb der Naturkausalität
steht, als gemäß dieser intelligiblen Ursache in der Sinnenwelt
wirkendes Sinnenwesen aber stets nach Naturgesetzen wirkt. Dieser Begriff der transzendentalen Freiheit endlicher
Vernunftwesen, wie es die Menschen sind, weist aus sich selbst auf den Begriff
praktischer Freiheit, die als "Unabhängigkeit der Willkür von
der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" bestimmt ist. Diese negative Bestimmung beinhaltet als
doppelt negative Unabhängigkeit gegenüber äußeren Bedingungen die Bestimmbarkeit des Willens aus reiner Vernunft. Die Freiheit
dieses Willens ist dann nicht mehr im arbiträren Charakter der Gegenstände
der Willkür zu suchen, sondern in der jeder inhaltlichen Bestimmung durch
besondere Maximen vorausgehenden Reflexivität der Vernunft, die, weil
sie hier praktisch ist, die allgemeine Bestimmung rationaler Gesetzmäßigkeit
der Maximen überhaupt ist. Diese Forderung an die Vernunft, als Form
des Willens das Handeln grundsätzlich, unerachtet der möglichen
Inhalte, aber deswegen nicht inhaltslos, zu bestimmen, drückt der kategorische
Imperativ in allen seinen Formulierungen aus, am besten jedoch in folgender:
"Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Indem Kant die Maxime, das inhaltsbezogene Moment der Handlung,
über den Konjunktiv der Absicht mit dem Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung als dem formalen Moment verknüpft, entwirft
er kein positives Handlungskriterium, sondern bestimmt Moralität allgemein
als die Form der Freiheit des Willens durch sachliche Nachordnung der Willensinhalte
nach der Reflexion praktischer Vernunft. Lassen sich die Inhalte widerspruchsfrei
vernünftig allgemein formulieren, sind sie an sich selbst notwendig.
Nichts anderes als eine Beurteilungshilfe nach dem Kriterium allgemeiner Gesetzmäßigkeit
stellt die sogenannte 'Naturgesetzformulierung' des kategorischen Imperativs
dar, in dem Bewußtsein, daß ein Schematismus hier systematisch
nicht möglich ist. Schließlich bedeutet auch die sogenannte 'Selbstzweckformulierung',
die wegen ihrer größeren Lebensnähe gern bevorzugt wird, dieselbe
Formbestimmung der Freiheit: "Handle
so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person
eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst." Nicht vom Umgang der Menschen ist hier primär die
Rede, sondern von der Menschheit, der allen Menschen gemeinsamen und jedem
zu eigenen Bestimmung, endliche Vernunftwesen zu sein, als die sie Zweck an
sich selbst zu sein vermögen, indem sie von der Selbstbestimmung ihrer
Vernunft Gebrauch machen. Nur durch die Bestimmung einer Handlung gemäß
der allgemeinen vernünftigen Gesetzmäßigkeit wird die Menschheit
aller Menschen geachtet, denn die Notwendigkeit allein einer solchen Handlung
vermöchte jeder durch die eigene Vernunft einzusehen.
Dieser
Formalismus, auf den der kategorische Imperativ stets zurückweist, die
widerspruchsfreie Subsumtion der Maximen unter Gesetzesform, ergibt sich bei
Kant somit als einzige Möglichkeit, Freiheit nicht bloß als Willkürfreiheit
oder Freizügigkeit, sondern grundsätzlich zu denken. Freiheit des
Subjekts kann nur darin bestehen, daß es seinem Willen aus eigener Vernunft
selbst das Gesetz gibt. So ist das Sittengesetz die Form freier Willensbestimmung,
deren adäquater Ort im jenseits des Reichs der Notwendigkeit beginnenden
Reich der Zwecke liegt, das aber in der Bestimmung des höchsten Gutes
doch nach moralischen Gesetzen mit der Glückseligkeit, nämlich durch
deren Nachordnung nach dem obersten Gut Moralität, und das heißt
eben vernünftige Selbstbestimmung, verknüpft zu denken ist.
Dem entspricht der Begriff der Freiheit als Autonomie,
in der sich Vernunft als gesetzgebend auf sich selbst bezieht. Diese Reflexivität der reinen praktischen Vernunft
ist aber negativen Ursprungs, indem sie sich auf sich nur unter Abweisung
aller anderen, zufälligen, Bestimmungsgründe rein zu beziehen vermag.
Positiv wird sie erst als "Bestimmung der Willkür durch die bloße
allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß", also durch bestimmende Rückwendung des gesetzmäßigen
Willens auf die Inhalte der Willkür. Aus diesen Bestimmungen, der Selbstgesetzgebung
und dem Selbstzweck endlicher Vernunftwesen, gewinnt Kant den Würdebegriff:
"Autonomie ist also der Grund der Würde
der menschlichen und jeder vernünftigen Natur."
II. Recht und Autonomie
Im Begriff äußerer Freiheit der Metaphysik der Sitten sind die Bestimmungen verkehrt: "Von dem
Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere
ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes
als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden,
weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für
die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher
auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig
ist. Nur die Willkür also kann
frei genannt werden." Die Reflexivität reiner Selbstgesetzgebung der praktischen
Vernunft, Grundlage von Autonomie, gilt hier als indifferent gegen Freiheit.
Umgekehrt gilt die Bestimmbarkeit der Willkür durch diesen oder jenen
Zweck, Indifferenz gegen Autonomie, als Freiheit.
Das hängt zusammen mit Kants Rechtsbegriff, der durch drei Momente
bestimmt ist: Erstens
ist Recht die äußere praktische Relation von Personen. Aufgrunddessen
gelten die Personen zweitens
nur als Vertreter äußerer Willkürbereiche. Diese müssen
drittens nicht inhaltlich, aber formal verträglich
sein. Die einzige Gestalt von Liberalität, die durch eine Rechtsordnung
bestimmbar ist, besteht daher in der kollisionsfreien Koordination partikularer
Willkürsphären durch allseitig verbindliche Einschränkung der
Freizügigkeit, die garantiert, daß niemand seiner Freizügigkeit
durch die Ausdehnung der eines anderen ganz benommen wird: "Also ist
das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der
freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem
allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches
mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch
weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine
Freiheit auf jene Bedingungen selbst
einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß
sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei
und von anderen auch thätlich eingeschränkt werden dürfe [...]." Der Begriff von Freiheit als äußerer ist auf die der Willensbestimmung zugrundeliegende Willkürfreiheit,
das arbitrium sensitivum liberum, reduziert, ohne das die Vernunftprävalenz des praktischen
Freiheitsbegriffs hier bestimmend würde; das heißt: Die juridische
Zurechnungsfähigkeit des Subjekts bezieht sich nur auf das Verhältnis
von Handlungen zu Rechtsgesetzen, nicht zu subjektiven Triebfedern. Kants
'allgemeines Prinzip des Rechts' ist somit nur äußerlich an das
Sittengesetz angelehnt; beide sind wesentlich unterschieden, denn das Rechtsgesetz
bleibt auf der Stufe komparativer Allgemeinheit, weil der Grundbegriff des
Rechts, das äußere Mein und Dein, kein Begriff a priori ist, wie schon die Bezeichnung seiner ursprünglichen
Beziehung aufs Subjekt als 'empirischer Besitz' anzeigt. Aber auch der 'intelligible Besitz', obgleich
er als Trennung des Eigentumstitels vom Besitzgegenstand durch allgemeine
wechselseitige Anerkennung des Besitzrechts von den spezifisch empirischen
Bedingungen befreit scheint, bleibt als Ausschluß anderer vom Gebrauch
einer Sache an empirische Bedingungen geknüpft: Seine Allgemeinheit folgt
nicht aus dem Begriff des Rechts, sondern setzt zunächst logisch das
rechtliche Postulat der praktischen Vernunft voraus, dessen Inhalt die Unmöglichkeit der Herrenlosigkeit
von Gegenständen ist, die sich ergibt, weil Kant Besitz und Gebrauch
von Gegenständen notwendig miteinander verknüpft. Diese Begründung
verweist sachlich auf die Verrechtlichung der ursprünglichen Aneignung
von Grund und Boden, die als Umwandlung des empirischen Besitzes in intelligibles
Eigentum die Trennung der Produzenten von den ursprünglichen Produktionsmitteln
als Verfügung der Produktionsmitteleigentümer über die Produzenten
reproduziert. Die bürgerlich-rechtliche Trennung des Eigentumstitels
vom Besitzgegenstand, die mit der Umwandlung des Lehensrechts in Richtung
auf Verkäuflichkeit und Beleihbarkeit der Lehen begann und so auf schon längst durch geschichtliche
Machtverhältnisse bestimmten Besitztiteln aufbaute, nahm dabei wenig
Rücksicht auf das Recht aller Menschen "da zu sein, wohin sie die
Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat". Stellvertretend, als ein Kulminationspunkt dieser Geschichte,
sei an die Highland Clearings
erinnert, durch die der schottische Adel im 19. Jahrhundert von seinen Eigentumstiteln
an von Anderen bewohntem und bebautem Land unversehens praktischen Gebrauch
machte, Gemeindeland expropriierte und vielen tausenden dort ansässigen
Ackerbauern ihr Produktionsmittel Grund und Boden nahm, um es für die
lukrativere Produktion von Schafwolle nutzbar zu machen, in deren Verarbeitungsindustrie
die Enteigneten sich als Arbeitskräfte verdingen mußten, und zwar
zu den wahrhaft mörderischen Bedingungen der neuen Produktionsmittelbesitzer. Dies Produktionsverhältnis schreibt das bürgerliche
Privatrecht bis heute fest; die Spuren seiner Geschichte sind noch mancherorts
zu besichtigen, wo von einer Klippe der Blick auf die vom Gras überwucherten
Grundmauern ganzer Dörfer fällt und auf die Schafe, die zwischen
den Grabmalen derer weiden, die noch dort hatten sterben dürfen. Die
in diesem Prozeß "mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem
Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften" wirkenden Kräfte sind auch durch die Projektion auf
einen Urzustand nicht intelligibel zu machen, so daß die possessio
noumenon als Resultat historischer Gewalt doch jedenfalls ein
Begriff a posteriori
ist, weil er bloß die relative Ordnung solcher empirischer geschichtlicher
Verhältnisse betrifft, die durch einen allgemeinen Vernunftbegriff nicht
widerspruchsfrei und schon gar nicht als notwendig erfaßt werden können.
Da hingegen allein die Reflexivität moralischer Selbstbestimmung a
priori strenge praktische Allgemeinheit gewährt, können
die aus dem Eigentumsbegriff entwickelten Rechtsgesetze keine Anwendungen
des Sittengesetzes auf Handlungen sein, zumal die subjektive Durchsetzung
ihrer Geltung in Gestalt empirischer Zwangsbefugnis auf ebenfalls äußerlichen Triebfedern ruht.
Die Rechtsordnung ist also keine Freiheitsordnung, sondern eine Zwangsordnung.
III. Die Ordnung äußerer
Freiheit und die Freiheit des Grundgesetzes
Gemäß den dargestellten Aporien ergibt sich für Kant als
Zweck des Staats nicht Autonomie oder Würde, sondern die Garantie und
der Schutz der privatrechtlich geordneten Willkürfreiheit: Das öffentliche
Recht "ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine
Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen
Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie
vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist,
theilhaftig zu werden." Entsprechend ist das Rechtsinstrument der Ordnung der äußeren
Freiheit bei Kant nicht das Staatsrecht, sondern das Privatrecht, dem das
Staatsrecht dient, zum Beispiel, indem es die mit dem Recht verbundene Zwangsbefugnis
mit der nötigen Gewalt ausstattet. Grundlegend ist aber ebenso die Garantie formeller Freiheit
und Gleichheit der Bürger, die nur so Rechtspersonen sein können:
"Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft
(societas civilis), d. i. eines Staats, heißen Staatsbürger (cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als
solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem andern Gesetz zu gehorchen,
als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat; bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk in Ansehung
seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er ebenso rechtlich zu verbinden
das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens
das Attribut der bürgerlichen Selbstständigkeit,
seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke,
sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens
verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit,
in Rechtsangelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen
[d.h. bedürfen, also müssen; M.St.]."
In diesem Sinn schützt auch das Grundgesetz die
Privatautonomie, die Grundrechtegarantie erstreckt sich nicht primär
auf den Rechtsverkehr der Bürger untereinander und dessen Organisation,
d.h. eben gerade nicht auf die rechtliche Ordnung der äußeren Freiheit. Nun gibt es – noch – sozialstaatliche Beschränkungen
der Privatautonomie wie etwa den 'Kontrahierungszwang', deren Ausdehnung aber stets durch die gültige Wirtschaftsverfassung
definiert ist. Zwar gewährleistet das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsverfassung,
aber es schließt jede rational geordnete strikt aus. Welche Wirtschaftsordnung sich dann durchzusetzen vermochte,
war auch 1949 unschwer zu prognostizieren: Die auf dem Weltmarkt konkurrenzstärkste,
der gerade zur Zeit die schlimmsten Opfer seit Einführung der Sozialsicherung
gebracht werden, obgleich die Produktion immer leistungsstärker wird.
Darin zeigt sich als Maßstab auch des Sozialstaats weder das tatsächliche
ökonomische Niveau, noch die Menschenwürde, sondern seine durch
den Weltmarkt diktierte ökonomische Funktionalität, d.h. "die
Chancengleichheit [wird] zur Waffe des Stärkeren gegen den Schwächeren.
Denn in jeder, vollends aber in einer mobilisierten Gesellschaft ist Vertragsfreiheit
immer auch wirtschaftliche und also öffentliche Macht,
die die Freiheit anderer notwendig beschränkt oder unterdrückt." Daß zu einer Zeit, zu der es möglich ist, mit
immer weniger Arbeitsaufwand immer mehr und immer bessere Produkte herzustellen,
die Realisierung dieser Möglichkeit noch immer von einer Produktionsweise
dirigiert wird, die in sich zwangsläufig Mechanismen erzeugt, die bewirken,
daß trotz allen Produktivkraftsteigerungen die Arbeitszeiten verlängert
werden und das Äquivalent der Arbeitskraft gesenkt wird, ist eine Konsequenz,
über deren Möglichkeit die Väter des Grundgesetzes zu entscheiden
hatten. Die neuerliche Wandlung der Sozialdemokratie, die schonungslos die
Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt mit dem Wohlergehen der Bevölkerung
bezahlt, ist eine direkte Konsequenz aus jener Entscheidung, die in der Sache
die Entscheidung für den Produktionszweck der Kapitalakkumulation und
gegen den der optimalen Versorgung der Menschen gewesen ist.
Indem Kooperation und Arbeitsteilung, wodurch die gesellschaftliche
Reproduktion bestimmt ist, nicht rational, sondern durch Konkurrenz organisiert
sind, die ihrem Begriff nach auf die wechselseitige Vernichtung der Existenz
der Konkurrierenden geht, schließt eine solche Ordnung, so sehr sie
historischen barbarischen Ordnungen überlegen sein mag, Autonomie prinzipiell
aus und ist keineswegs moralisch, doch aber rechtlich-pragmatistisch zu ordnen.
In den ungeschlichteten Aporien der klassischen Rechtsbegründungstheorien
bei Kant oder auch bei Hegel macht sich das Bewußtsein dieser Spannung
von Recht und Moral noch geltend, die das Grundgesetz überwinden soll
erstens durch Positivierung aller Begriffe 'überpositiver'
Herkunft,also solcher, die etwa einer moralphilosophischen oder auch
vernunftrechtlichen Begründung entspringen. So wird der Würdebegriff
(GG Art. 1, Abs. 1) als Grundlage der Rechtsfähigkeit interpretiert, das Sittengesetz (GG Art. 2, Abs. 1) auf den Gehalt privatrechtlicher
Generalklauseln reduziert und die Definition des Allgemeinwohls (GG Art. 14, Abs.
2 und 3) dem jeweiligen Gesetzgeber anheimgestellt.
Zweitens müssen diese Begriffe um ihren moralischen wie um ihren historischen
Gehalt verkürzt werden. Zwar sieht Art. 19 II GG den Schutz des 'Wesensgehaltes'
der Grundrechte vor, der aber will sich nicht dingfest machen lassen. Die
'Objektformel' der Würde etwa, die unter Umgehung der Bestimmung des
Begriffs feststellt "[d]ie Menschenwürde
ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen
Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird", versagt vorm Schutz der Privatautonomie, die garantiert,
daß jedes Individuum der arbeitenden Bevölkerung zum Gegenstand
der Willkür der Arbeitsanwender wird, weil diese aufgrund ihres Eigentums
an den Produktionsmitteln jenen, die ihre Arbeitskraft ohne solche Mittel
nicht zur Produktion der von ihnen benötigten Gebrauchsgegenstände
verwenden können, die Vertragsbedingungen – in immer durchlässiger
werdenden Grenzen – diktieren können. Solche Verträge entsprechen
nicht Kants Begriff der freien Vereinigung freier Willen, denn die in ihnen gelegene Mittelbarkeit und Austauschbarkeit
des Vertragsnehmers ist schon im Prinzip ein eklatanter Verstoß gegen
dessen Würde. Deshalb bleibt der Würdebegriff des Grundgesetzes
wohlweislich unbestimmt, und das gilt auch für die 'Objektformel' seiner
Auslegung, die zum einen als "sehr vage" kritisiert wird. "Zum anderen versagt sie bei wortwörtlichem
Verständnis als Mittel zur Bestimmung von Menschenwürdeverletzungen,
denn ganz unvermeidlich wird jeder Mensch als Mittel und nicht als Zweck von
anderen Menschen wie auch der staatlichen Gewalt in vielen Situationen des
Lebens behandelt." Der Legalisierung solcher Situationen dient das Grundgesetz
als Recht, ihrer Etablierung im Sittenbewußtsein als 'unvermeidlich'
dient es mit der Vagheit seiner Bestimmungen 'überpositiver Herkunft',
mit denen es den Ausschluß moralischer Autonomie zum Ausdruck politischer
Freiheit verklärt, indem es sich öffnet gegenüber sozialen
oder sittlichen Veränderungen, damit keine künftige Generation in
ihrer Verwaltung der Willkür von den Vorstellungen der früheren,
und das heißt auch Kants, bevormundet werde. Die Preisgabe einer inhaltlichen Bestimmung der Hauptgrundrechte
folgt direkt aus ihrer ausgehöhlten positivrechtlichen Gestalt, die sich
an keine Vernunftbestimmungen mehr bindet, indirekt aus übergeordneten
Staatszwecken, deren Organisation eine solche Rechtsgestalt erfordert. Insgesamt
zeigt sich das Grundgesetz als funktionales Staatsrecht, nicht als sachliche
Manifestation von Moral.
Eine zeitkontingente Bestimmung des Sittlichen kommt
nun für Kant nicht in Frage. In der Schrift über Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
unterscheidet er strikt alle juridische Verfassung von der ethischen Konstitution
der Menschen: "Ein rechtlich-bürgerlicher
(politischer) Zustand ist das Verhältniß
der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die insgesammt
Zwangsgesetze sind) stehen. Ein ethisch-bürgerlicher
Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d. i. bloßen
Tugendgesetzen vereinigt sind." Diese Gesetze wären auch ohne Zwang Gesetze, d.h.
notwendig und allgemein geltend, weil sie diese Geltung aus der Notwendigkeit
und Allgemeinheit der Urteile reiner praktischer Vernunft, letztlich der Vernunft
als solcher, bezögen. Das so bestimmte Sittengesetz ist aber als synthetischer
Satz a priori zeitlich
und situativ invariant. Nur als solches Prinzip, nicht als auf die jeweils
gegebene Praxis relative Regel, hat der kategorische Imperativ praktische
Kraft; nicht als unmittelbare positive Handlungsregel, als die sie in allen
unmoralischen Verhältnissen den Untergang der Handelnden bedeutet, sondern
als Kriterium (Unterscheidungsmaßstab der Vernunft), die unmoralischen
Verhältnisse zweifelsfrei als solche zu erkennen. Ließe sein Gehalt
oder der irgendeines anderen Moralbegriffs sich pragmatisch an die Realität
adaptieren und wäre mit ihr wandelbar, so könnte er so wenig etwas
unterscheiden helfen wie ein Maßstab, der mit dem zu Messenden mitwüchse,
dessen Wachstum erkennbar machte. Ein so verstandenes Sittengesetz zerstört
den Begriff der Sittlichkeit mit dessen Verlust auch die Möglichkeit
ihrer Realisierung untergeht. Allein als invariantes Prinzip kann das Sittengesetz
Kriterium des Fortschritts in der Moralisierung sein, der immer zugleich Widerstand
gegen den Rückschritt ist. Jeder andere Fortschrittsbegriff bleibt partikular
und mit der "universellen Regression [...] verbündet". Schon Kant bemerkt, von den sittlichen Verhältnissen
der Menschen entsetzt: "Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft
cultivirt. Wir sind civilisirt
bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und
Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt
zu halten, daran fehlt noch sehr viel." Diese Moralisierung, die doch nur die Ordnung der Freiheit
der Menschen selbst wäre, sieht Kant durch die "Erweiterungsabsichten" der Staaten wirksam verhindert. Diese Absichten werden
heute nicht mehr vorrangig über Kriege realisiert, sondern über
die Konkurrenz der Staaten auf dem Weltmarkt, die ebenso auf diese Staaten
zurückschlägt und die Lebensverhältnisse sogar nachhaltiger
erschüttert, so daß Kants Minimalbedingung der Moralisierung, nämlich
"eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner
Bürger", in immer weitere Ferne rückt. In dieser Bedingung
ist die Möglichkeit von Freiheit neben ihren kulturellen und zivilisatorischen
Voraussetzungen direkt mit der moralischen Bildung der Vernunft der Menschen
verknüpft. Doch ist dies nicht als Prospekt auf eine Gelehrtenrepublik
zu verstehen, sondern als Forderung, die Vernunft zum Maßstab der gesellschaftlichen
Ordnung zu machen. Das hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft
angemahnt: "Es ist ein alter Wunsch, der,
wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird:
daß man doch einmal, statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher
Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge; [...] Aber die Gesetze sind
hier auch nur Einschränkungen unserer Freiheit auf Bedingungen, unter
denen sie durchgängig mit sich selbst zusammenstimmt; mithin gehen sie
auf etwas, was gänzlich unser eigen Werk ist, und wovon wir durch jene
Begriffe selbst die Ursache sein können." Schon hier liegt der starke Autonomiebegriff der Kritik
der praktischen Vernunft
zugrunde, denn die Einschränkung der Freiheit meint die der Willkür
und zwar nicht nach dem Merkmal der Konkurrenzfähigkeit, sondern auf
Bedingungen, unter denen die Freiheit mit sich selbst nicht in Widerspruch
gerät, also ihrem Begriff gemäß entfaltet wird. Zwar formuliert
Kant wenige Seiten später, "daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen
bestehen" können solle, aber auch hier geht es ihm nicht um
die empirische Organisation partikularer Willkürsphären, nach deren
Bedingungen womöglich Freiheit überhaupt geordnet werden solle,
sondern im Gegenteil um die begriffliche, vernünftige Einheit der Freiheit,
die als Vermögen in allen Menschen existiert und deshalb den Maßstab
für die kollektive Praxis darstellt, der nicht in der empirisch abhängigen
Glückseligkeit bestehen kann, deren Begriff als bloße "Befriedigung
aller unserer Neigungen" nichts über die Mittel aussagt, mit denen sie realisiert
werden soll. Bestimmten aber die Menschen ihre Lebensverhältnisse durch
Vernunft, so Kant, wären diese menschenwürdig und deshalb unfähig,
das Glück der Menschen durch etwa aus ihnen folgende Antagonismen zu
sabotieren: "Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach
Gesetzen, welche machen, daß jedes
Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann, (nicht von der
größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen;)
ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten
Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde
legen muß, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen
Hindernissen abstrahieren muß, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen
Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung
der echten Ideen bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann Schädlicheres
und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte
Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren
würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden,
und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung
geschöpft wurden, alle gute Absicht vereitelt hätten." Dies ist die politische Konsequenz aus Kants Philosophie.
Sie ist nun aber nach Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes mit dem
Grundgesetz unvereinbar, das die Freiheit der Wissenschaft und die der politischen
Willensbildung strikt voneinander getrennt wissen will: Die Geschichte sei
nicht durch ein wissenschaftlich erkennbares Endziel zu ordnen, die Politik
dürfe nicht wissenschaftliche Erkenntnisse zu Richtlinien haben, weil
dies die freiheitlich demokratische Meinungsbildung angreife. Mit dieser Begründung hat 1956 das Bundesverfassungsgericht
die Verfassungswidrigkeit der KPD festgestellt und damit einerseits deren
Programm sicherlich zu viel wissenschaftliche Ehren angetan, andererseits
aber die Praxis aus reiner Vernunft generell ausgeschlossen und mit ihr die
Realisierung des über Autonomie bestimmten Würdebegriffs.
Politische Philosophie, als deren Ort die Differenz von
Moralphilosophie und Rechtsphilosophie bestimmt wurde, sieht sich schließlich
sowohl der Unmöglichkeit moralischer Willensbestimmung unter unmoralischen
Bedingungen konfrontiert als auch der Unzulänglichkeit der bürgerlichen
Verfassung als juridisches Moralsurrogat zur Herstellung adäquater Bedingungen.
In dieser Konfrontation kommt sie als negative auf ihren der Moderne angemessenen
Begriff. Von diesem aus ist die Negativität nicht mehr in ein positives
philosophisches Programm der rechtlichen Ordnung von Freiheit zu übersetzen,
wo immer dieses seine Anleihen machte; Moralisierung und mit ihr allererst
Freiheit sind, wie stets, nur vom Widerstand gegen das Unmoralische zu erwarten,
und der beginnt im kompromißlosen Denken der Vernunft.